Herr Professor Baumann, die Dekade gegen Krebs hat nunmehr eine Laufzeit von gut vier Jahren. Auf welche Erfolge können Sie zurückblicken?
Professor Baumann: Zum einen ist es uns gelungen, in der Dekade wirklich innovative Strukturen aufzubauen und langfristige Perspektiven zu eröffnen, die auch über Legislaturperioden hinaus Bestand haben. Weiter hat sich die Einbindung der verschiedenen onkologischen Stakeholder in die Steuerung der Dekade etabliert; das heißt, die Akteurinnen und Akteure bringen sich mit ihren ganz unterschiedlichen Perspektiven und Angeboten ein. Und schließlich verfügen wir heute über eine gute Mischung aus langfristig angelegten Strukturen – ich nenne beispielhaft die Erweiterung des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen NCT – sowie kurz- und mittelfristigen Programmen.
Welche konkreten Fortschritte wurden erzielt?
Die Arbeitsgruppe ‚Große ungelöste Fragen der Krebsforschung‘ hat ein zukunftsgerichtetes Format für die Ausschreibung von Programmen etabliert. Es führt dazu, dass sich diese Ausschreibungen am Medical Need und an der Passgenauigkeit zur deutschen Forschungslandschaft orientieren und so konkret formuliert sind, dass sich herausragende Konsortien dafür bewerben und rasch substantielle Beiträge leisten können. Die Arbeitsgruppe ‚Wissen generieren durch Vernetzung von Forschung und Versorgung‘ hat mit einer vergleichbaren Vorbereitung eine Ausschreibung für ein Pilotprojekt in mehreren Modellregionen auf den Weg gebracht. Und was die Arbeitsgruppe ‚Prävention‘ anbelangt, so ist es ihr gelungen, dieses wichtige Forschungsfeld als gleichwertig zu anderen Bereichen in der Krebsforschung zu positionieren. Das BMBF hat kürzlich dazu die Ausschreibung ‚Risikoadaptierte Krebsfrüherkennung‘ veröffentlicht. In strategischer Partnerschaft von DKFZ und Deutscher Krebshilfe hat der Aufbau des Nationalen Krebspräventionszentrums in Heidelberg begonnen, ein innovatives und nachhaltiges Vorhaben eines ‚Comprehensive Cancer Prevention Centers‘. Wir haben einen national wie international sehr beachteten Kongress ins Leben gerufen, der 2022 bereits zum dritten Mal stattgefunden hat. Zudem gibt es seit 2019 jährlich im September die Nationale Krebspräventionswoche, die zunächst von Deutscher Krebshilfe und DKFZ gestaltet wurde, seit 2021 ist auch die Deutsche Krebsgesellschaft Partner. Weiter hat die Deutsche Krebshilfe mehrere Programme mit Fragestellungen zur Krebsprävention und das DKFZ drei Professuren in diesem Bereich ausgeschrieben. Also auch hier hat sich im Vergleich zur Zeit vor der Dekade viel getan.
Gibt es etwas, das wir im Bereich Prävention von anderen Ländern lernen können?
Deutschland hinkt anderen westlichen Ländern in manchen Bereichen tatsächlich hinterher, etwa bei der Tabakkontrolle oder der Impfung gegen das humane Papillomvirus HPV. Allerdings gibt es auch andernorts ein erhebliches Defizit an Präventionsforschung bzw. der Umsetzung der Ergebnisse in die Praxis. Prävention erfährt oftmals mehr Aufmerksamkeit in Ländern, die sich eine teure Reparaturmedizin nicht leisten können. Nehmen wir als Beispiel Ruanda: Dort sind praktisch 100 Prozent aller Kinder gegen HPV geimpft, bei uns sind es knapp die Hälfte aller Mädchen und bei den Jungen noch viel weniger.
Ein weiterer Schwerpunkt der Dekade gegen Krebs ist die Patientenbeteiligung.
Richtig, Patientinnen und Patienten waren von Anfang an als wichtige Stakeholder bei allen Aktivitäten der Dekade auf Augenhöhe dabei. Die Nationale Dekade gegen Krebs hat vergangenes Jahr anlässlich des Weltkrebstages die Allianz für Patientenbeteiligung ausgerufen und mittlerweile über 80 Unterzeichner, die sich verpflichten, Patientenbeteiligung auch langfristig zu sichern. Ebenfalls im vergangenen Jahr hat erstmals die Konferenz für Patienten als Partner in der Krebsforschung stattgefunden. Weiter wurden ein nationaler NCT-Patientenbeirat sowie lokale Patientenbeiräte an den NCT-Standorten etabliert und die Patienten-Experten-Akademie PEAK ins Leben gerufen. Dort werden Patientinnen und Patienten qualifiziert, sodass sie ihre gelebten Erfahrungen und ihre Expertise in die Gesundheitsforschung und in integrierte Forschungs- und Versorgungsstrukturen einbringen können. Damit ist eine wichtige Grundlage dafür gelegt worden, dass künftig sämtliche Studien hinsichtlich ihrer Fragestellungen auch von Patientinnen und Patienten aus deren Perspektive begutachtet werden.
Stichwort NCT: Sehen Sie den Bedarf mit nunmehr sechs Standorten gedeckt?
Im NCT sind das DKFZ und sechs NCT-Standorte mit insgesamt elf Universitätskliniken vertreten – das ist immerhin fast ein Drittel aller Universitätskliniken in Deutschland. Prinzipiell können weitere Partner partizipieren, zum Beispiel andere Comprehensive Cancer Center. Und wenn wir sehen, dass wir irgendwo nachsteuern müssen, dann werden wir hierzu mit dem BMBF ins Gespräch gehen.
Vision Zero e.V. ist offizieller Unterstützer der Dekade gegen Krebs. In welcher Form manifestiert sich diese Unterstützung?
Der Verein betreibt eine sehr kompetente Medienarbeit und setzt spannende Themen, die alljährlich beim Vision Zero Summit in Berlin diskutiert werden. Mit dieser Sichtbarkeit stützt Vision Zero e.V. auch die Ziele der Dekade gegen Krebs.
Wie bewerten Sie die Dekade gegen Krebs im Rahmen ihrer Berufsbiografie? Ein singuläres Ereignis?
Ja, das würde ich schon sagen, dass dies ein einmaliges Ereignis ist – allerdings ein sehr großes Ereignis mit vielen Komponenten über zehn Jahre hinweg. Zusammen mit anderen Akteuren habe ich mich im Vorfeld sehr intensiv dafür eingesetzt, die Dekade zum Laufen zu bringen, und ich bin mir sicher, dass sie die onkologische Landschaft in Deutschland über viele Jahrzehnte auch nach dem offiziellen Ende 2028 nachhaltig prägen wird. Ich glaube nicht, dass etwas Vergleichbares in meiner Karriere noch einmal passieren wird.
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Professor Dr. med. Dr. h.c. Michael Baumann ist Vorstandsvorsitzender und wissenschaftlicher Vorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums DKFZ in Heidelberg und Ko-Vorsitzender des Strategiekreises der Nationalen Dekade gegen Krebs.
Das Gespräch führte Günter Löffelmann. Erstveröffentlichung Juni 2023 in der Tagungsbroschüre des Vision Zero Summit.