RÜCKBLICK BERICHT
BERLIN
SUMMIT

Versorungsstrukturen optimieren, Zertifizierung ausbauen, Digitalisierung voranbringen
Prof. Dr. Michael Ghadimi
 
 

Herr Professor Ghadimi, manchmal scheint es, die Fortschritte in der Krebstherapie gehen heute in erster Linie von der Molekulargenetik und der Arzneimittelentwicklung aus. Was ist mit der Chirurgie?

Professor Ghadimi: Es ist aus meiner Sicht tatsächlich so, dass die Krebschirurgie ein geringeres mediales Echo erhält. Nichtsdestotrotz hat sie bei soliden Tumoren einen bedeutenden Stellenwert. Etwa 80 Prozent aller Krebspatient:innen benötigen im Laufe ihrer Erkrankung eine Operation. Das allein zeigt, wie relevant unsere Disziplin ist.

 

Wo hat sie heute ihren Platz?

 

Nach wie vor ist die Chirurgie neben der Strahlentherapie im Prinzip der einzige kurative Ansatz bei soliden Tumoren. Ein weiteres wichtiges Feld ist die Metastasenchirurgie. Immer mehr Menschen leben heute immer länger mit ihrer Krebserkrankung und können Metastasen entwickeln. Durch Operationen von Metastasen können Patient:innen häufig deutlich länger leben. Und schließlich beugen wir auch Krebserkrankungen vor, nämlich wenn Menschen ein extrem hohes Erkrankungsrisiko haben. Das ist etwa bei der familiären adenomatösen Polyposis der Fall, die fast immer zu Darmkrebs führt, oder bei Mutationen in den BRCA-Genen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Brust- und andere Krebserkrankungen hervorrufen – denken Sie an das Beispiel von Angelina Jolie, die Mutationsträgerin ist und sich vorsorglich einer Mastektomie unterzogen hat.

Wichtig ist bei all dem: Wir können unsere Stärken am besten in enger Kooperation mit anderen Fachdisziplinen ausspielen, mit der internistischen Onkologie, der Bildgebung, der Strahlentherapie etc.

 

Welche Entwicklungen haben diese Positionierung ermöglicht? 

Es gab enorme Fortschritte, sowohl innerhalb der Chirurgie als auch in für uns relevanten Fachdisziplinen, mit denen wir eng zusammenarbeiten; denken Sie an die Bildgebung, an die Anästhesie oder die interventionelle Radiologie. In der Chirurgie beruhen die Fortschritte vor allem auf der Minimalisierung des Zugangstraumas durch Robotik und auf der bildgesteuerten Chirurgie – der Image-guided Surgery – bei der die Bildgebung während der Operation genutzt wird, um präziser zu arbeiten, Resektionsgrenzen genauer zu bestimmen, die Durchblutungssituation besser darzustellen. Daneben haben sich natürlich auch die Materialien weiter entwickelt, und es gelingt uns immer besser, etwaige Komplikationen zu beherrschen.

 

Was haben die Patient:innen davon?

Zum einen ist die postoperative Mortalitätsrate drastisch gesunken. Darüber hinaus hat sich die Phase der Rekonvaleszenz verkürzt. Und wir können heute Operationen durchführen, die vor ein bis zwei Jahrzehnten undenkbar waren, etwa an der Leber, der Bauchspeicheldrüse oder im Becken. Hier haben wir die Grenzen des Machbaren weit hinausgeschoben. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Wir bewegen uns auf eine sogenannte funktionsgerechte Chirurgie zu. Das heißt, wir wollen nicht nur den Tumor möglichst vollständig entfernen, sondern auch Funktionsausfälle minimieren. Bei Darmkrebsoperationen geht es beispielsweise darum, den Schließmuskel zu erhalten, bei Eingriffen an der Prostata die Erektion und die Kontinenz. Wir sind da zwar noch nicht so weit, wie wir gerne wären, aber die Entwicklung ist angestoßen.

Ein weiterer wichtiger Innovationstreiber ist die Digitalisierung... 

… und sie wird auch unsere Disziplin maßgeblich voranbringen. Die Digitalisierung geht Hand in Hand mit Verbesserungen in der Robotic und der Bildgebung, und sie erlaubt es, Situationen zu simulieren und am Computer durchzuspielen. Dies eröffnet völlig neue Möglichkeiten für die Operationsplanung. Man wird zukünftig beispielsweise eine Kasuistik digital duplizieren und in einem spezialisierten Zentrum vorstellen, dort diskutieren und sich eine Empfehlung zusenden lassen – etwa, ob der Patient vor Ort behandelt werden kann oder in ein Zentrum verlegt werden sollte. So etwas kann man nicht entscheiden, indem man telefoniert und ein paar Laborwerte und Computertomografien hin- und herschickt.

 
 

Solche digitalen Medical Twins von Patient:innen sind auch ein Segen für das Training von Chirurg:innen, vergleichbar mit dem Training im Flugsimulator für Pilot:innen. Und schließlich könnte man sie auch hervorragend für die Aufklärung von Patient:innen einsetzen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine digitale Applikation, wo sie einem Patienten eine VR-Brille aufsetzen, ihm zeigen, wie es in seiner Leber aussieht, wo seine Tumoren sitzen und wie sie ihn operieren möchten. So etwas würde die Entscheidungsfindung erheblich verbessern, Stichwort Patient Empowerment. Um derartige Anwendungen zu ermöglichen, haben wir in Göttingen den Surgical Innovation Space gegründet.

 

Sie sind derzeit Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft. Wie möchte die Institution die Onkologie fit für die Zukunft machen?

Ein wichtiges Feld ist die Zentralisierung. Das ist etwas, womit wir uns in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern noch schwertun. Zentrales Anliegen ist es, Versorgungsstrukturen zu optimieren. Es reicht einfach nicht, einen guten Chirurgen in einer Klinik zu haben, es braucht auch die entsprechende Ausstattung und Systemkompetenz und hohe Fallzahlen. Deswegen gibt es auch das Zertifizierungssystem. Und wir wissen aus Studien, dass Patienten bessere Überlebenschancen haben, wenn sie in einem zertifizierten Zentrum betreut werden.

 

Die Zertifizierung gibt es doch schon lange!

Seit 20 Jahren, ja. Es sind aber nach wie vor viele nicht zertifizierte Häuser in der Krebschirurgie tätig. Und wir erweitern das System ja auch ständig, sodass eine Zertifizierung für immer mehr Tumorentitäten möglich ist.  Heute kann man sich beispielsweise auch als Sarkom-, Pankreas- oder Speisenröhrenzentrum zertifizieren lassen. Und die DKG wird diese Entwicklung weiter pushen.

Ein anderes wichtiges Handlungsfeld ist die Weiterentwicklung von Behandlungsstandards durch das Leitlinienprogramm und durch klinische Forschung. Zwar finanzieren wir selbst keine Studien, aber über unsere Arbeitsgemeinschaften stoßen wir viele an. Weiter möchte ich die Informationsangebote für Betroffene durch die Landeskrebsgesellschaften erwähnen. Die dortigen Mitarbeiter:innen leisten wertvolle Hilfe, indem sie Patient:innen wohnortnah beraten. Und schließlich werden wir weiter mit der Politik, der Selbstverwaltung und den Kostenträgern sprechen, um Verbesserungen für krebskranke Menschen in Deutschland zu erreichen.

 

Was sind Ihre größten Anliegen?

Zum einen wünsche ich mir, dass sich die Politik um optimierte Versorgungsstrukturen kümmert. In Nordrhein-Westfalen passiert das bereits, aber wir müssen flächendeckend und schneller vorankommen. Weiter müssen die Voraussetzungen geschaffen werden, dass sich Patient:innen besser über die Qualität der onkologischen Versorgung in Deutschland informieren können. Hier brauchen wir dringend mehr Transparenz. Und ich würde mir wünschen, dass die operative Medizin mehr Gehör findet – und beispielsweise im Rahmen der Nationalen Dekade gegen Krebs entsprechende Projekte angestoßen werden.

 

Wie ist Ihre Haltung zur Vision-Zero-Initiative?

Ich nehme sie als einen Thinktank wahr, dessen Mitglieder sehr gut in der Lage sind, Missstände anzusprechen, Diskussionen anzuregen und Forderungen aufzustellen. Das kann im Sinne der Onkologie nur gut sein.

 

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Günter Löffelmann. Erstveröffentlichung im Juni 2023 in der Vision Zero Summit Tagungsbroschüre.

 

Professor Dr. Michael Ghadimi ist Direktor der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Kinderchirurgie an der Universitätsklinik Göttingen und Präsident der Deutschen Krebsgesellschaft DKG.